Als Sehnsuchtsort für den Urlaub nach der Hochzeit fällt einem wahrscheinlich eher nicht folgendes ein: Eine winzige Almhütte in absoluter Alleinlage auf kühlen 1.700 Metern. Ohne Dusche, Strom und Internet. Für einen Kaffee oder um das Geschirr abzuspülen muss der Ofen mit Holz eingeheizt werden, und um auf die Toilette zu gehen sucht man das Plumpsklo auf, das außen auf dem umfriedeten Grundstück steht. Drumherum nichts außer Lärchen, Kühe und Kuhfladen ...
In der Holzhängematte Sonnenstrahlen und Stille einsammelnd, Mann und Hündin neben mir, kommt mir die Erkenntnis, dass es für uns wohl keine besseren Flittertage hätte geben können. Wie absurd er hier erscheint, der Gedanke an den Sehnsuchtsort Nummer 1, Mauritius: kleine Häuschen knapp oberhalb der Meeresoberfläche ‒ und durch unseren Flug befeuert bald unter der Wasseroberfläche ‒ Seite an Seite mit anderen Urlaubspärchen, tausende Kilometer weit entfernt. Was ist wahrer Luxus?
Gleich mit dem ersten Betreten der urigen Holz-Hütte stellte sich ein Wohlgefühl ein: es war sauber, warm und gemütlich. Einfach, überschaubar und natürlich. Am nächsten Tag fühlte ich mich «wieder wie ein Mensch» ‒ und erschrak selbst über dieses Empfinden. Wer oder was war ich denn vorher?
Osttirol wirbt mit dem Slogan «Kommen Sie zu uns, wir haben nichts» für den Tourismus. Das stimmt nicht ganz, weil man hier alles wieder finden kann.
Aber zumindest ist es hier frei von Technik, Überreizung, Lärm und Gestank. Ich entscheide plötzlich selbst, wem oder was ich mich aussetze. Selbst die kostenlose Zeitschrift aus dem Biomarkt stört mit ihrer bunten Werbung und wird in den Holzschrank verbannt. Warum haben wir eigentlich Tee von zuhause mitgenommen? Wir ernteten frische Lindenblüten noch in der Stadt neben einer Tankstelle, als wir losfuhren nach Österreich. Und ich mache eine Brennessel-Kur, indem ich jeden Tag frische Brennessel aus der Kuhweide als wirkungsvollen Tee aufbrühe. Unser «Wald-Salat» zum Mittagessen ist Natur-Arznei: bestehend aus Karotten, veganem Schafskäse, Schnittlauch, Salz, Pfeffer, Öl und allem, was um die Hütte wächst, nämlich Sauerklee, jungen Lärchen- und Fichtentrieben (was für ein Aroma!), Löwenzahn, Schafgarbe, Ehrenpreis und Frauenmantel.
Ich glaube, dass wir immens unterschätzen, welche unterbewussten Kräfte wir aufwenden müssen, um bestimmte Einflüsse des modernen Lebens auszuhalten beziehungsweise abzuwenden, und dazu muss man noch nicht einmal hochsensibel sein. Wie den Mann, der zu laut in sein Handy spricht. Stoffe, die einen unangenehmen synthetischen Weichspülergeruch verströmen. Werbung aller Art, auf den unterschiedlichsten «Zubringern» (ob visuell oder akustisch). Schlimme oder auch belanglose Tages-Nachrichten, die wir gar nicht in Erfahrung bringen wollten. Wir schützen uns permanent, indem wir überspielen, uns abschotten, kompensieren oder ein dickes Fell aufbauen ‒ und halten das für völlig normal.
Mit einigem Abstand nehme ich auch in, beziehungsweise nach jedem Urlaub wahr, wie anstrengend eigentlich normale Tätigkeiten wie Autofahren oder vor-dem-Computer-Sitzen sind.
So eine einsame Berghütte 1.700 m ü. NHN erscheint uns wie ein isolierter, zumindest besonderer Raum ‒ doch hier oben erscheint mir unser modernes Leben noch unnatürlicher, ja krankhafter, als ohnehin schon, wenn ich selbst unten darin verstrickt bin. Hier oben ist es keine mentale Überzeugung, dass mit unseren Leben etwas nicht mehr stimmt, sondern eine gefühlte Tatsache. Und natürlich sind wir nahezu allesamt Abhängige ‒ auch ich verbringe geschlagene 30 Minuten auf dem 800 Höhenmeter tiefer liegenden Dorfplatz, um 20 Bilder, eine Sprachnachricht und zwei Videos per ultralangsamen öffentlichen WLAN an meine Lieben zu versenden (immerhin erst am dritten Tag!).
«Wir sind (...) nicht mehr in der Lage, mit der steigenden Geschwindigkeit mitzuhalten. Unsere Neuerungen wachsen nicht mehr in uns, sondern werden einfach irgendwo 'für uns' entwickelt. Und wir denken dann: 'Das ist nun mal so, von nun an müssen wir damit umgehen.'»
(Roland Düringer in «Leb wohl Schlaraffenland ‒ Die Kunst des Weglassens», edition a)
Was ist also wirklicher Luxus für mich?
Luxus ist, mich abends mit vom Feuer erwärmtem Wasser waschen zu können, und dasselbe morgens mit dem durch die Steine geflossenen eiskalten Gebirgswasser zu tun.
Nichts zu hören, außer meine Gedanken ‒ und das Rauschen des Windes in den Baumgipfeln.
Weit oben in einer Fichte zu sitzen und an ihre tröstliche Gegenwart gelehnt, ein Buch zu lesen, mein Mann sitzt noch höher über mir; wir atmen dabei den würzigen Harz-Duft ihrer rauen warmen Rinde ein.
Luxus ist es für mich, die Vögel fliegen zu hören: Das Schlagen der Flügel eines vorbeiziehenden Vogels durch die Lüfte meine ich zu spüren, so überrascht es.
Jedem Menschen, der es möchte, sollte so eine Auszeit-Woche im Jahr zustehen ‒ eine «Wäsche für Körper, Geist und Seele», wie ich es einmal über einen vergleichbaren Aufenthalt in einem Zen-Kloster schrieb. Schweigen, zumindest dem Smartphone Urlaub geben. Fasten, zumindest auf eine natürlichere Ernährung achten. Die Natur als die große Heilerin erkennen: Wir sind hier permanent draußen und schlafen nachts mit offenem Fenster. Laut dem Biologen Clemens G. Arvay müssen wir dadurch mindestens 40 Prozent mehr Killerzellen in unserem Blut zur Verfügung haben. Es ist ein würdiges Leben, was wir hier dieser Tage führen, kommt es mir in den Sinn: viel Schlaf, eine starke Entschleunigung, Beschränkung auf das Wesentliche, Natur. «Der Alltag wurde wieder ins rechte Licht gerückt» ist treffend im Gästebuch der Hütte zu lesen.
Ich trage sie noch in mir wie einen kostbaren Schatz, als wir schließlich wiederkehren müssen, runter, ins moderne Leben: Die Erinnerung, erst an ein wundervolles dreitägiges Hochzeitsfest mit großer Strahlkraft ‒ und dann an die Erhabenheit der Berge, die heilsame Weite und die heilige Stille.
«95 Prozent der Zeit, die wir als Menschen auf dem Planeten verbracht haben, fallen in die Steinzeit. Das ist eine relativ lange Zeit. Wir gehen natürlich davon aus, dass die Zeit, in der wir jetzt leben, die einzig wahre ist und dass es davor praktisch nichts gegeben hat und jetzt alles 'normal' ist.»
(Roland Düringer in «Leb wohl Schlaraffenland ‒ Die Kunst des Weglassens», edition a)
- Mehr zum Thema, wie gesund ein Aufenthalt im Wald ist, beim wunderbaren Clemens G. Arvay, z.B. in «Der Biophilia-Effekt»
- «Kann es sein, dass ich mich manchmal wie am Rand des Nervenzusammenbruchs fühle, weil die Welt am Rand des Nervenzusammenbruchs ist?» fragt sich Matt Haig in «Mach mal halblang»
- Passende Filme «Der wilde Wald» und «Der Fuchs und das Mädchen»
© Maria Rabia Rossmanith (Text und Fotos), MEERSTERN.de