Was bedeutet Spiritualität im Alltag?

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Der nachfolgende Text entstand im Rahmen einer Teilnahme an einem Buchprojekt über Spiritualität. Das Buch erscheint voraussichtlich Ende 2025 / Anfang 2026 und versammelt viele Stimmen zum Thema Alltagsspiritualität. Herausgeberin ist Tatjana Broek. 

An einem dieser prächtigen Frühlingstage packte ich gerade große Bücherpakete vor meinem Haus, als ich sehr deutlich Herbstlaub rascheln hörte. Ich blickte auf, blickte in die Richtung, aus der die Naturmusik zu hören war und hielt inne: Auf der großen Hangwiese oberhalb meines Hauses, die mit trockenen Blättern aus dem letzten Herbst bedeckt war, ließ der Wind einen kleinen Orkan aus Laub entstehen – kreisrund tanzten die Blätter, beschrieben einen Kreis, vielleicht fünf Meter hoch und drei Meter breit. Die restliche weite Wiese war davon gänzlich unberührt, die anderen Blätter lagen ganz still da. Mein Herz wurde hell, meine Brust warm und mein Atem ging unwillkürlich tiefer. Ich werde diese berührende Szene meinen Lebtag nicht mehr vergessen. Sie ist für mich das lebendige Sinnbild von Spiritualität im Alltag.

Spiritualität im Alltag ist für mich die Erkenntnis, dass es keinen Alltag gibt und die Überzeugung, dass Spiritualität nicht vom sogenannten Alltagsleben zu trennen ist. Die Spiritualität erblüht dort, wo wir selbst liebevolle Achtsamkeit hineinbringen und hineinbringen lassen. Gegenüber uns selbst, anderen Lebewesen und innerhalb von Handlungen. In all dem, was wir Tag für Tag erleben und leben. Sie bedeutet, den zarten Zauber spüren zu lernen, der dieser menschlichen Welt oft fehlt und trotzdem in allem lebt und manchmal einfach nur verborgen ist. Sie leuchtet dort, wo ich mich nicht von der digitalen Parallelrealität oder den Gedanken und Vorstellungen meines Verstandes absorbieren lasse. In dem Moment, in dem ich wieder auf meinen Atem achte, zwischen diesen Zeilen lese, in den blauen Himmel hoch schaue und die Weite in meiner Brust gespiegelt spüre.

«Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion» und «zur Unendlichkeit zurück kehren all jene, die sie auf der Erde gesucht haben», schrieb der libanesische Dichter Khalil Gibran einst so weise. Spiritualität im Alltag bedeutet für mich auch, gern Mensch zu sein. Im Menschsein anzukommen. Im Menschsein Himmel und Erde zu verbinden. Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, dass man «im Himmel» sicherlich keine Wäsche im Sonnenwind mehr aufhängen kann oder einfach mal Fernsehen schauen. Und schon allein deshalb genieße ich das Menschsein sehr …

  • Was könnte spiritueller sein, als Müll in der Natur zu sammeln? Wenn ich es schaffe, den Müll aufzusammeln und währenddessen nicht dessen Verursacher zu verwünschen. Und wenn es mir doch passiert, mich deshalb nicht zu verurteilen.
  • Wenn mein Computer Probleme mit dem Herunterfahren hat und ich mich frage, wo ich selbst Probleme mit dem Herunterfahren habe.
  • Mir Zeit zu nehmen für ein Kind und es zu hundert Prozent wahrzunehmen zu versuchen, ihm wirklich zuzuhören.
  • Unkraut jäten oder die Buchhaltung machen, und es als Meditation leben.
  • Die Erde geistig-bildlich in zwei Händen gehalten zu sehen.
  • Versuchen, dem Leben nicht im Weg zu stehen, nicht gegen Wellen anzukämpfen, sondern mit ihnen zu schwimmen (oder wie es Meike Werkmeister formuliert: «Wenn das Leben dir Sturm schickt, mach wenigstens die Haare auf.»).
  • Das Beste aus jeder Situation zu machen und wenn mir das Beste nicht einfällt, etwas anderes zu machen oder es dann eben so gut zu machen, wie es mir in diesem Moment möglich ist, denn es geht mitnichten um Perfektion im Leben.
  • Die Verbindung zu mir selbst nicht zu verlieren und wenn ich sie verliere, mich darüber zu freuen, dass ich es gemerkt habe.
  • Zeit schaffen für sich selbst: Weniger durch das Smartphone scrollen, sondern einfach aus dem Fenster zu blicken. Weniger in sozialen Medien wirken, sondern mit dem Nachbarn sprechen. Weniger Videos schauen, sondern selbst in der Realität anpacken und ausprobieren.
  • Etwas Nerviges und Unangenehmes wie mehrmals stündliches Hahnenkrähen verknüpfen mit etwas angenehmem: Immer, wenn der Hahn schreit, denke ich daran, tiefer in den Bauch zu atmen (funktioniert nicht nachts).
  • Ehrlich zu sich selbst zu sein: Manchmal fühlt sich das Leben und man selbst an wie eine schwere Last, und sich es dann zuzugestehen, dass man einfach mal einen ganzen Tag im Bett bleibt und die Welt sich auch weiterdreht, wenn ich passiv bin (was nicht wirklich Passivsein ist).
  • Sich jeden Tag eine halbe Stunde mit sich selbst hinzusetzen, nicht, um dem Alltag zu entfliehen, sondern im Gegenteil, um das Leben besser erfahren zu können und nicht nur an sich vorbeirauschen zu sehen; um «bei Sinnen zu bleiben» und für sich selbst da zu sein.
  • Zu wissen und zu akzeptieren, dass das Leben ein Auf und Ab ist, die Partnerschaft ein «Hin und Weg». Man würde auch nicht auf die Idee kommen, das Prinzip der Jahreszeiten blöd zu finden. Und wie langweilig bis wenig lebensfreundlich wäre es bitte, wenn es nur Sonnenschein gäbe?
  • Kleine Kinder zu haben ist eine spirituelle Königsdisziplin: Den Schlaf- und Freiheitsentzug als Eltern nicht gering zu schätzen, denn widerfährt einem dies nicht in ähnlicher Weise in einem Ashram oder Kloster?
  • Regelmäßig (schlechte) Nachrichten zu fasten und News-Portale meiden, und dennoch in der aktuellen Gesellschaft und politischen Lage einigermaßen informiert und engagiert zu leben, damit weich zu werden, auch wenn man definitiv nicht einverstanden ist mit den Geschehnissen.
  • Mir aus Versehen tief in die Hand zu schneiden und die Verletzung als daraus resultierende perfekte Achtsamkeitsübung zu begreifen: Ich muss sehr aufmerksam und langsam sein in jeder Hand-lung, und geduldig mit mir selbst.
  • Die ausgekämmten Haare unserer Hündin in unseren Garten legen und zuzusehen, wie Vögel diese abholen, um damit ihr Nest kuschelig und warm für ihren Nachwuchs zu polstern – und dabei tief innen zu erfahren, dass wir alle verbunden sind.


Und: Sich so oft wie möglich mit der Natur zu verbinden: Wir laufen im Alltag in der Regel an allem vorbei. Wir sind eher in unserem Kopf, als draußen in der Natur unterwegs. Meist spazieren wir in unseren Gedanken herum, anstatt mit unserem Körper in der Natur. Ich versuche, mit jedem Schritt anzukommen, nicht voran. Den mächtigen Baum anblicken und ihn als Wesen sehen, seine Würde spüren. Die kleinen Bäumchen bemerken, die ihre Äste ausstrecken wie Hände, die Nadeln sind die Finger. Ich nehme eine Nadelhand in meine und denke unwillkürlich «wie süß»! Ich laufe nicht mehr vorbei. Ich treffe gewissermaßen überall auf Liebe.

Gelehrte Spiritualität betrifft für mich zu großen Teilen auch den Alltag, sie führt durch den Alltag. Sie ist für mich weder laut, noch schillernd. Sie ist leise, fein und unter allen Umständen demütig. Sie ist mitunter sehr intensiv, unbedingt kritikfähig, absolut geerdet und nicht abgehoben. Sie verliert nicht das Gefühl für ihr Gegenüber. Sie führt ins Licht, jedoch bewusst auch in die Schatten. Sie ist authentisch, weil die Person, die sie vermittelt, die Dinge, von denen sie spricht, selbst aus eigener Erfahrung kennt. Spiritualität ist weder ein Hobby, noch eine Challenge, und sie darf nicht dazu dienen, irgendwo ankommen zu wollen (außer bei sich selbst, und man selbst wandelt sich stets). Und auch hier vollendet Khalil Gibran mit seinen Worten: «Wenn du das Ende von dem erreicht hast, was du wissen solltest, stehst du am Anfang dessen, was du fühlen solltest».

Spiritualität im Alltag ist für mich die Erkenntnis, dass es keinen Alltag gibt und die Überzeugung, dass Spiritualität nicht vom «Alltag» zu trennen ist. Jeder Tag bietet für jeden Menschen das Potenzial zum All-Tag im Sinne von Alles-Tag. Jeder Tag auf diesem wundersamen bunt-blauen Planeten in den unendlichen schwarzen Weiten.

 

© Maria Rabia Rossmanith (Text und Fotos), MEERSTERN.de 


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