Ein «Erfahrungsbericht» über das Sterben ‒ ein Thema, über das kaum jemand spricht

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Foto: © Matthias Klar

In der Nacht der Polarlichter – Polarlichter in unseren Breitengraden, welche Rosa, Rot und Türkis die Dunkelheit erhellten – in dieser unwirklich anmutenden Nacht Anfang Mai habe ich einen lieben Freund verloren.

Diese gute Seele verlor ihren Kampf gegen den Krebs, einen Kampf, den sie laut Sterbeanzeige «mit großer Tapferkeit» führte. Luc, ich hoffe von Herzen, Du hast die Farben sehen können! Du hättest sie geliebt. Ich wünsche mir, dass Du Dich vertrauensvoll in sie hast begeben können, auf dass sie Dich zu einer neuen Welt geleitet haben.

Wenn ein naher Mensch stirbt, dann ist es, als stürbe etwas von uns mit ihm. Paradoxerweise empfinde ich es gleichzeitig so, als ob Teile von diesem Menschen bei uns verbleiben würden, auf uns übergehen und von uns weitergelebt werden, gleich Geschenken. Mein Großvater ist an Heiligabend 2023 gestorben, und es sind nicht nur Werkzeuge, Pflanzgefäße und eine große Anzahl von Kerzen an mich gegangen, sondern meiner Empfindung nach auch Kräfte, Erinnerungen und Talente.

Ich glaube an Reinkarnation, aber dennoch wollte ich bislang eher weniger als oft an den Tod denken ‒ egal wessen Tod. Und schon gar nicht wollte ich einmal unmittelbar dabei sein, wenn jemand stirbt ... Irgendetwas an diesem «Thema» war dennoch gruselig, beängstigend, zu groß – auch, wenn ich fest an eine unsterbliche Seele glaube.

In der Nacht zum 24. Dezember 2023 dann wachte ich unversehens alleine am Sterbebett meines Großvaters Franz. Er hatte am Tag zuvor auch noch Geburtstag gehabt. Keiner wollte so recht wahrhaben, dass Opa Franz womöglich kurz danach – und somit ausgerechnet an Weihnachten – sterben könnte. Ich fühlte mich seltsamerweise nicht überfordert mit der Situation an seiner Seite, meine Hündin war bei uns beiden im Zimmer anwesend und Kerzenlicht wachte flackernd über dem Bild. Mein Großvater atmete über einen langen Zeitraum intensiv, er war nicht mehr ansprechbar – wobei ich mir sicher bin, dass er dennoch irgendwie alles mitbekommen hat. Ich hielt stundenlang seine warme, einst starke Hand, die mir seit fast 40 Jahren vertraut war; eine Hand, die als Imker, Schreiner, Schuster, Gärtner, Vater und Großvater gewirkt hatte, und flüsterte ihm besänftigende aufmunternde Worte zu. Ich wusste, dass mein mir bisher gar nicht ängstlich erscheinender Großvater Angst vor dem Tod gehabt hatte. «Kleiner Opa» war so ziemlich das einzige, das ich ständig liebevoll wiederholen konnte. Ich sagte ihm Danke und dass er es ‒ alles ‒ gut gemacht hatte. Mehr Worte wagte ich nicht zu sprechen, mehr Worte brauchte es wohl auch gar nicht.

Am nächsten Tag, Heiligabend, beschlossen wir dann nach einigen Bauchgefühl-Befragungen rundherum, bei Franz zu bleiben und Weihnachten dort zu «feiern». Wir holten Geschenke und Lebensmittel, und als wir nach ungefähr eineinhalb Stunden wieder im Opa-Haus ankamen, wollte ich meinem Mann beim Kochen helfen. Doch mit einem Mal verspürte ich einen Impuls und begab mich wortlos ins Zimmer zu meinem Großvater. Innerhalb von einer Viertelstunde ‒ als hätte er auf unsere Rückkehr gewartet ‒ verstarb er. Im Kreis seiner Liebsten, gehalten von allen.

Ich habe mir Sterben immer anders vorgestellt. Natürlich ist jeder Tod anders, aber es mit einem Geburtsprozess zu vergleichen, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. So war es aber. Es war mehrtägige Sterbearbeit. Und etwas, das ich bereits erfahren durfte, als ein kleines Lamm, eingekuschelt in eine weiche blaue Decke, in meinen Armen starb, oder ein federleichter, verletzter, winziger Vogel, der wenige Sekunden vor seinem Tod in meinen Händen noch einmal sein Auge aufriss und mich dunkel ‒ und wie ich empfand ‒ dankend daraus ansah ‒ in seiner dunklen Pupille meinte ich das ganze Universum zu schauen und mich umfassen ‒, war auch dieses Mal spürbar:

So grausam und unfassbar der Tod ist, er wird getragen von einem Wunder. Nicht umsonst trägt das Wort Wunder die Wunde in sich.

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Foto: © Matthias Klar

Meine Mutter verlor eine gute Freundin. In der Nacht, in der sie starb, fiel eine Postkarte von der Wand. Das Geräusch weckte meine Mutter und genau zu der Uhrzeit starb die Freundin, wie wir im Nachhinein erfuhren. Was sich vielleicht nach einer Filmszene anhören mag, in der man «wie unrealistisch!» denken mag, ging aber noch tiefer. Die Karte war nämlich einst von der Freundin geschrieben worden. «Lieber Gruß von Marianne», stand darauf. 

Was sich nach einer Begebenheit mit Gruselfaktor anhören mag, ist den Betroffenen ein sprichwörtlich fassbares, handfestes Wunder; ein Trost, der das nicht-fassen-Können der Todeswunde geborgen in seinen Händen hält.

In den Tagen und Wochen nach dem Tod meines Großvaters hielt ich Ausschau nach seinem Wunder. Ich erwartete es förmlich. Nichts geschah. Bis meine Mutter mir offenbarte, dass sie ‒ von einem Tag auf den anderen ‒ von ihrer über 40 Jahre währenden (!), schwerwiegenden Angststörung erlöst worden sei. Einfach so, rückstandslos. Sie hätte dafür keine Erklärung, sie habe sich bisher nicht getraut, darüber zu sprechen, aus Angst, dieses Wunder mögllicherweise zu zerstören ‒ aber irgendwie müsste das doch mit dem Tod ihres Vaters zusammenhängen ...

Mein persönliches Wunder in Bezug auf den Tod ereignete sich aber eigentlich schon an besagtem Heiligabend 2023, als mein Opa starb, der auch ein Vaterersatz für mich gewesen war. Er atmete langsamer, seltener, und plötzlich verzog sich sein Gesicht in einer Art und Weise, dass ich unwillkürlich dachte, er müsse jetzt sicherlich durch eine Art Nadelöhr gelangen ... Nur für einen ganz kurzen Augenblick. Ein Seufzen, eine einzelne Träne. Dann hob sich seine Brust nicht mehr. Stille. Ein ganzes, ein langes Leben war beendet.

Ich fühlte unerwarterweise eine unglaubliche Erleichtertung. Vielleicht die seine? Von dem schweren, schwachen, engen Körper erlöst zu sein, leicht zu sein? Wieder das große Bewusstsein zu sein, weit und frei, und nicht mehr beengt und blind im kleinen Ich? Es war sofort spürbar, dass er sich nicht mehr in seinem Körper befand. Seine Hand war jedoch noch lange tröstlich warm. Man sagt, dass es mehr Muskeln benötigt, betrübt dreinzublicken als vergnügt. Vielleicht eine wissenschaftliche Erklärung dafür, dass mein Opa etliche Minuten nachdem er verstorben war, anfing zu lächeln. Seine Mundwinkel zeigten ohne Zweifel entspannt nach oben. Bloß: Diese wissenschaftliche Erklärung braucht kein Mensch. Dadurch, dass man Liebe und Glaube im Gehirn abbilden kann, werden die beiden noch lange nicht reproduzier- oder erklärbar. Er hatte ein friedliches, entspanntes, aber auch müdes Gesicht, das ich Zeit meines Lebens nicht mehr vergessen werde, und das überhaupt nichts Beängstigendes an sich hatte.

Mein persönliches Wunder in Bezug auf den Tod ereignete sich an diesem Heiligabend gegen 19 Uhr, als ich den Tod als eine Art wundersame Geburt in etwas Neues erfuhr, quasi körperlich erfuhr. Als ich den Tod als etwas Tröstliches, bei dem man getragen wird, erfuhr. Als etwas vollkommen Natürliches, das viel zu selten thematisiert wird.

Sterben ist eine Pforte, der Tod ist neues Leben. Unfassbar und grausam bleibt, dass wir nicht mehr mit unseren Lieben sprechen können, dass wir ihnen nicht mehr in die Augen blicken werden, außer im Traum. Unfassbar ist der Tod, das Genommenwerden.

Grausam ist, dass ich nicht mehr mit Dir sprechen konnte, Luc; bewusst, ein letztes Mal. «Doch wer sagt, dass Du loslassen musst?», höre ich Dich sagen. «Die Welt ist so groß, und das Gehirn so klein», sagtest Du einst. Wie wahr. Und ich sehe Dich schmunzeln ... 

Mai 2024, gewidmet Luc Bürgin.

 

 

© Maria Rabia Rossmanith (Text und Fotos), MEERSTERN.de 


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