Drewermann-Interview


GLAUBEN UND (VER-)ZWEIFELN
– ein philosophisches Gespräch mit Eugen Drewermann
von Maria Rabia Rossmanith, MEERSTERN

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Eugen Drewermann ist eine Persönlichkeit, die wir unendlich schätzen: übervoll des Mitgefühls, wortgewandt ohnegleichen und bestechend intelligent. Bei Vorträgen scheint des «Kirchenkritikers» appellierende Stimme durch die Zeiten zu dringen. Und seine unzähligen umfassenden Werke werden mit Sicherheit noch in einigen hundert Jahren gelesen werden. 2009 hatte ich die Ehre, mit dem «bekanntesten Theologen der Gegenwart» länger sprechen zu dürfen.

 

MR: Wie würden Sie den Gegenstand Ihrer Arbeit zusammenfassen?

Eugen Drewermann: «Es war und ist mir ein Anliegen, von der Religion ein Verständnis zu gewinnen, das Menschen nicht verurteilt, sondern einlädt und begleitet. Und dazu muss man nicht nur die Sprache ändern.

Auch die Sünde zum Beispiel, die Schuld ist immer falsch verstanden worden. Worte wie 'Gnade' sind völlig leergeredet worden. Man muss die Erfahrungen sehen lernen, die in diesen Begriffen vor langer Zeit einmal vermittelt wurden.

Dabei geholfen hat mir sehr die Psychoanalyse. Sie hat mir gezeigt, wie hilflos Menschen sein können. Inzwischen auch die Neurologie. Sie zeigt uns, dass wir – gleich armen Tieren – ausgeliefert sind ...

Und die Antwort darauf kann nur eine tiefere Art von Verstehen sein, nicht verurteilen. Dem dient eigentlich meine ganze Arbeit. Sie möchte das Christentum therapeutisch heilsam, wohltuend verstehen, und dabei vor allem die verschiedenen Formen der Angst integrieren in ein tieferes Vertrauen.

Dazu gehört dann auch entsprechend der Einsatz der symbolischen und dichterischen Sprachform. Ich habe mich viel mit Märchen beschäftigt, um diese auszulegen. Ich habe die Bibel ausgelegt, um Menschen heranzuführen an eine Dimension ihres Lebens, die den Fragen von Einsamkeit, Not, Verzweiflung, Tod, Scheitern usw. standhält. Das ist ein langes Bemühen, aber ich glaube: lohnend.

Ich bin gegen den Krieg, gegen die Todesstrafe – kurz: es gibt eine Menge zu tun.»


MR: Was waren die Gründe bzw. konkreten Aussagen Ihrerseits, die zum Rauswurf aus der Kirche geführt haben?

Eugen Drewermann: «Das ist ein Paradox der katholischen Kirche – aber im Grunde jedes absolutistischen Systems – die Gründe, die die kirchliche Institution nennt, sind kaschiert. Es sind gänzlich andere, als diejenigen, um die es sich wirklich gedreht hat.

Am Ende hat man mir vorgeworfen, ich glaubte nicht an die Auferstehung, ich leugnete die Gottheit Christi – kurz, ich sei überhaupt kein Christ, und vielleicht auch geistig nicht ganz richtig. Wer kann schon einem System des absoluten Wissens widersprechen?

Es wird aus hunderten, tausenden von Seiten eine Aussage herausgenommen, die völlig missverstanden wird, und Sie haben keine Chance mehr, das zu korrigieren.

Ein Grund zur Verurteilung war, ich glaubte nicht an Auferstehung. Ich habe viele Bücher geschrieben über Auferstehung! Von den alten Ägyptern bis zu der Vorstellung, dass auch die Tiere im Tod nicht ihr Ende finden, dass es eine Gemeinsamkeit gibt über den Tod hinaus, die sich auf die ganze Kreatur bezieht. Das war aber alles null und nichtig – der wahre Grund ist, ich glaube nicht im physikalischen Sinne, dass zur Osterbotschaft gehört, das Grab Jesu sei beweisbar, fotografierbar leer gewesen. – Ich glaube und hoffe, dass Sie und ich auch auferstehen, ohne dass deswegen der Lauf der Natur geändert wird ...

Es ging im Grunde darum, dass ich von Religion nicht reden möchte als von objektiv beweisbaren Fakten – dafür zuständig ist die Naturwissenschaft. Aber damit ging der katholischen Lehre ihre Sicherheit verloren.

Und dann gab es eine unglaubliche Debatte über die Biologie der Jungfräulichkeit Mariens. Ich muss das so sagen, weil es so war. Ist Jesus zur Welt gekommen, indem seine Mutter vor der Geburt, während der Geburt und nach der Geburt biologisch eine Jungfrau war? Für mich sind das wunderbare Bilder, die im alten Ägypten, im alten Orient ihre lange Tradition haben; in vielen Kulturen aufscheinen. Man kann glaube ich überhaupt keinen Menschen verstehen, wenn man nur sagt, der ist das Kind seiner Mutter und seines Vaters, Produkt der Gene, der Erziehung. Man muss ihn betrachten als ein Wesen, das absolut ist; religiös gesprochen von Gott her, als Schöpfung. Und dafür ist das eine herrliche Metapher.

Aber die Kirche will aus wunderbaren, dichterischen Metaphern Tatsachenbehauptungen in Raum und Zeit ableiten. Das widerspricht jeder normalen Denkart, das widerspricht auch der historisch-kritischen Exegese. Der Glaube soll die Vernunft in einer Weise zerstören, dass man am Ende nur noch die Kirche als Art der Vergewisserung hat. Das eigene Fühlen ist uninteressant, das eigene Denken, die eigene Erfahrung, die eigene Person...

Die Kirche ist die Wahrheit – Punkt. Und damit kann ich natürlich nicht leben – und ich frage mich, wer eigentlich.»


MR: Menschen, die sehr viel Sicherheit brauchen, wahrscheinlich.

Eugen Drewermann: «Genau. Aus viel Angst, die die Kirche macht. Und das wiederum dreht sich jetzt im Kreise. Ich wusste vor 30, 40 Jahren wirklich nicht, dass mein Versuch, die Angst der Menschen zu verstehen und von der Religion her zu überwinden, die Kirche bedroht, weil ihre ganze Macht auf Angst begründet ist. Das habe ich so noch nicht von allen Seiten kommen sehen ...»


MR: Welche verstorbene Persönlichkeit hätten Sie gern persönlich kennengelernt?

Eugen Drewermann: «Lauter Leute, die ich über alle Maßen schätze: Sören Kierkegaard, Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer ... Aber die alle sind untereinander völlig widersprüchlich. Diese zusammen zu bekommen, auch in mir selbst, das ist eine Art Fegefeuer. Dichter darf ich auf keinen Fall vergessen: Dostojewskij, er ist mir wichtiger als jeder andere – mit Abstand. Dostojewskij muss ich wiedersehen ...»


MR: Wie kommen Sie mit dieser Zeit und Gesellschaft zurecht?

Eugen Drewermann: «Ich leide ehrlich gestanden sehr darunter, dass nicht einmal minimale Evidenzen von Menschlichkeit oder Mitleid auch nur eine Chance haben sollen. Ich war nie ein glühender Vertreter der 68-Generation. Ich habe nie geglaubt, das Reich Gottes kommt, wenn da hunderttausend Leuten gegen dies und das marschieren und protestieren. Aber dass sich das derart zynisch nochmal drehen könnte, habe ich nicht für möglich gehalten.»


MR: Die Unbewusstheit der Gesellschaft?

Eugen Drewermann: «Völlige Schlafmützigkeit. Das Desinteresse. Die vollkommene Apathie. Anfang der 70er, am Ende des Vietnamkriegs, waren wir in großen Teilen (in Deutschland zumindest), der Meinung, ein paar Punkte seien jetzt ein für alle Mal klar: Wir würden in einer freien Demokratie keinen Krieg mehr führen können, weil die Bevölkerung keine Akzeptanz mehr dafür hat. Es schien evident, dass die Dritte Welt eine Überlebensfrage ist, und dass wir sie nicht abhängen können vom Wirtschaftskreislauf der Industrienationen. Evident, dass wir nicht leben können durch permanente Ausdehnung in die Natur und auf Kosten deren Zerstörung. Also in den drei Achsen schien friedenspolitisch, ökologisch, ökonomisch die Sache wie eine Einbahnstraße vor uns zu liegen – ohne Umkehr und Rückkehr. Es konnte nur noch besser werden. Es gab auch keine Alternative, die man sich noch hätte vorstellen können.

Das alles spielt keine Rolle mehr. Und was wir bis vor kurzem miterleben mussten war die Verselbstständigung der Finanzmärkte. Diese diktierten den Politikern, was sie zu machen hatten. Die bestimmen, was in den Zeitungen steht. Die bestimmen, welche Kriege geführt werden. Es ist unglaublich. Diese Enttäuschung ist schlimm.

Was die Tiere angeht, ist es unbedingt da hineinzuordnen. Wir hatten vor 40 Jahren zumindest Skrupel bei der 'Industrialisierung der Landwirtschaft'. Das ist die Überschrift einer gigantischen Quälerei von Tieren für die Nahrungsmittelproduktion.

Zum Aufkommen auf dem Schlachtviehmarkt: Dass sich das milliardenfach verbreiten würde, dass das ein Exportschlager werden würde, mit dem wir in Arabien die Milchproduktion aufbauen – Schweinezucht geht nur nicht arabischen Ländern, aber woanders – dass wir die Urwälder abbrennen, damit wir für McDonald's Rinderfarmen in Mexiko oder Guatemala haben – das alles war noch nicht vorstellbar. Und natürlich habe ich mal gehofft, dazu beitragen zu können, wie man es verhindert. Da ist die Enttäuschung gewaltig. Es ist keineswegs besser.

Dass wir gegen all das keine moralischen oder religiösen Schotten vorziehen können, das ist traurig.

An die Liebe jedoch glaube ich unbeirrbar.»


MR: Was würden Sie Menschen sagen, die Angst haben, und die ein Gottes-Urvertrauen erlangen möchten, aber keine Verbindung in sich spüren?

Eugen Drewermann: «Das ist eine ganz einfach scheinende Frage, die aber sehr komplex ist. Die Frage ist, was mit Gott gemeint ist. Aber wenn jemand so spräche, würde ich versuchen herauszufinden, was ihm eigentlich fehlt. Ob ihm überhaupt etwas fehlt.

Manche Menschen sagen, sie können an Gott nicht glauben, weil sie einen schweren Schicksalsschlag hinter sich haben – ihr Mann ist beispielsweise gestorben. Eine alte Frau, die seit langer Zeit zu mir kommt, hat seit Jahr und Tag damit begonnen: 'Mein Mann war mein Gott'. Sie ist ganz protestantisch groß geworden, aber den Mann hat sie geliebt, und das war ihre Religion, und nun ist alles leer, es gibt gar nichts mehr. Mit Christus konnte sie nicht viel anfangen, und Gott, das war vielleicht das Universum oder ihr Vorgarten, oder die Bäume, die da standen. Heute hört sie gerne Kassetten über die Auslegung des Lukas-Evangeliums. Liegt auf dem Sofa und hört, wie Jesus Menschen heilt, über's Wasser geht, und Angst besiegt. Dass es sowas gibt, wird für sie nicht bewiesen, aber glaubhaft.»


MR: Es mussten also psychische Blockaden gesprengt werden, um Platz zu schaffen?

Eugen Drewermann: «Das glaube ich allemal, es geht nur über persönliche Begegnung. Deshalb ist – so wie bei der Angst auch – der Hintergrund so wichtig. Manche Menschen haben nie gelernt, zu vertrauen, sondern skeptisch, vorsichtig diese Paranoia, alles zu vermuten. Andere tun beides, sie sind ständig paranoid, auf der anderen Seite gehen sie ständig in die Kirche und klammern sich auf sehr kindliche Art an Gott. Das ist gerade bei den Frommen eine große Schwierigkeit, sich von dieser Angstreligion oder Verobjektivierung, vom magischen Gebrauch der Religion frei zu machen. Das ist oft noch schwieriger, Leute von dieser Art von Gott wegzukriegen, als andere hinzuführen.»

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MR: «Hinter jeder Theorie steckt ein gerüttelt Maß an Enttäuschung», diesen Satz las ich kürzlich. Ist das ein Mitgrund, warum Sie schreiben? Um nicht von der Welt und ihrem Geschehen überrannt zu werden, sondern damit beschäftigt zu sein, ihre Auswüchse und Strukturen auseinander zu pflücken und zu durchleuchten, darzustellen und vor allen Dingen: für sich selbst zu verarbeiten?

Eugen Drewermann: «Ich kann dem Satz, den Sie erwähnen, viel abgewinnen. Ich drücke es einmal paradox aus:

Mir missfällt vieles, was auf der Welt passiert, und wenn ich mir nicht große Mühe gäbe, es zu verstehen, wäre ich geneigt, es nur zu verurteilen. Dann würde ich ganz schnell glaube ich verbittert, ärgerlich...»


«Nicht nur verträumten Seelen ist es eigen, sich eine Welt zu erhoffen, die es so nicht gibt. Denn wie sollten wir die Welt, wie sie ist, ertragen ohne die Vorstellung und Erwartung jener Welt, wie sie sein könnte und uns sogar verheißen ist?  

Nur wer die Welt unter der Größe ihrer endgültigen Bestimmung sieht, wird unter ihrer jetzigen Gestalt nicht zum Spötter und Verächter. Aber auch: nur wer sie zugleich in ihrer Armut sieht und begreift, daß er an all dem Unheil selbst die Schuld trägt, wird sich nicht zu einem mitleidlosen und tyrannischen Despoten und Scharfrichter über seinesgleichen aufwerfen.

Beide Erkenntnisse sind unerläßlich, um diese unsere unglückliche Welt mit ihrem schmerzvollen Leben liebzugewinnen: die Einsicht des Guten und die Nachsicht mit dem Bösen. [...] Die Devise kann also nicht lauten wie für den Engel Michael: vernichtet das Böse; sie kann für uns Menschen nur lauten: laßt das Gute wachsen.»

(aus: «Was uns Zukunft gibt»; Eugen Drewermann, Patmos-Verlag)



MR: Als Kind fragte ich mich, warum eigentlich Kriegswaffen produziert werden: Die Menschen müssten doch einfach keine Waffen mehr herstellen, dann würden keine Kriege mehr geführt werden ...

Eugen Drewermann: «Genau ... Genauso habe ich geschrieben mit 16. Es wurde die Bundeswehr eingeführt und ich war bei den Pfadfindern. Da gehörte dazu, dass jeder Katholik und jeder Pfadfinder sich freiwillig schon ohne weiteres meldete, aber mindestens, wenn er eingezogen wird, dorthin geht. Ich wusste, dass ich das nie tun würde, brauchte aber Gründe, Theorien, um zu sagen, dass ich überhaupt ein Recht hatte, Nein zu sagen. Dann war das auch so: Ganz genau wie Sie sagen, hab' ich geschrieben:

Wenn es keine Waffen gäbe, würden die Menschen sich immernoch mit dem Kochlöffel oder mit dem Prügel bearbeiten – aber das wäre viel weniger gefährlich, als mit einer Atombombe!

Wofür bauen wir diesen ganzen Schrott? – Ist mir übrigens immernoch nicht klar, warum wir das machen.»


MR: Dreht die Welt immer mehr durch, je moderner sie wird? Und denken Sie, dass die Menschen derart «weiterwüten», bis es eine Art Knall gibt? Oder dass sich das Gute Stück für Stück durchsetzen wird, so dass wir in den nächsten Jahrzehnten den gröbsten Schaden abwenden können?

Eugen Drewermann: «Das ist die Frage. Wenn wir einen spannenden Film über die Zukunft drehen, brauchen wir natürlich auch einen D-Day. Dann muss in ein paar Stunden die Welt explodieren: ein Meteorit schlägt ein, eine Atombombe geht hoch – irgend so etwas. Es ist möglich. Wir haben auch nicht gedacht, dass zum Beispiel die ganze Bankenwelt, die Finanzwelt in solch einen Crash kommen könnte. Wir tun immernoch so, wie wenn es beherrschbar ist – vielleicht, aber wir wissen es nicht.

Ich glaube die wirklichen Katastrophen kommen leise. Und langsamer. In Zeiträumen, die ein Einzelner nicht in seinem Erwartungsschema unterbringen kann. Das liegt einfach daran, dass wir Menschen maximal eine Zeit überspannen von 100 Jahren etwa, das geht von den Großeltern bis zu den Enkelkindern. 120 Jahre allerhöchstens. Mehr überblicken wir nicht. In unserer Vorstellung vielleicht – aber das sind Zahlen.

[...]

Der Klimawandel ist seit vielen Jahren ein Thema. Ich habe Anfang der 80er Bücher geschrieben: 'Der tödliche Fortschritt' – über die Zerstörung der Wälder, das Vernichten der Tiere, über die Bevölkerungsexplosion ... Das war voraussehbar, dass wir bis 2050 ungefähr bei 8, 9, 10 Milliarden Menschen stehen werden! – Die alle Auto fahren wollen, die alle Treibstoff dafür brauchen, die eine Krankenversicherung, Straßen, Hochhäuser und so weiter brauchen. Das sind nur ein paar Jahrzehnte. Trotzdem außerhalb der Verantwortung unserer Politiker. 4 Jahre sind denen schon zuviel. Sie prognostizieren die Rente, die wir in 30 Jahren haben werden – so kühn sind die – aber ist natürlich alles Quatsch.

Und deshalb weiß ich nicht. Ich glaube, dass wir wirklich erst dann umkehren, wenn es nicht mehr anders geht.

Und was mir viel eindrucksvoller ist, als so ein Katastrophenszenario, sind die unglaublichen Opfer, die wir bereit sind, in Kauf zu nehmen, einfach, um so weiter zu machen! Für uns sind 50 Millionen Menschen, die jedes Jahr verhungern, immernoch kein Grund; 1 Milliarde Menschen, die dabei sind, zu verhungern, kein Grund irgendetwas zu verändern; Tausende, die im Mittelmeer – einfach auf der Flucht verhungern – kein Grund, irgendetwas zu ändern. Das entsetzt mich.»


MR: Ja. Als Kind fragte ich mich weiter, warum es nicht einen unter diesen ganzen Menschen gibt, der aufsteht und auf die Weltenbühne tritt, und fragt: «Spinnt ihr eigentlich alle?» Aber es passiert nicht. Entweder muss das unglaublicher Egoismus sein, oder eine böse Absicht dahinterstecken ...

Eugen Drewermann: «Das meiste wird Blindheit sein, aber es gibt auch eine Blindheit, die nicht selbst auferlegt ist, und die schon bösartige Züge hat, klar.

Die meisten Menschen wissen aber überhaupt nicht, was passiert. Sie interessieren sich nicht. Sie lesen in der Zeitung, die schon dumm genug ist – man muss sich angucken, was für eine Zeitung man liest – und da am liebsten den Angebote-Teil, oder welcher Skandal um Boris Becker passiert ist. Das ist natürlich spannend. Aber wer interessiert sich für finanzielle, politische, militärtechnische oder sonstige Zusammenhänge? Die Militarisierung der Außenpolitik: wir verteidigen Deutschland am Hindukusch. Dass das bescheuert ist, könnte jeder wissen. Wir kämpfen gegen den Terrorismus in Afghanistan. Sogar zum Schutz der Frauen kämpfen wir in Afghanistan. Selbst die Zeitschrift 'Emma' schrieb das 2001.»


MR: Wenn wir uns alle mit diesen Themen beschäftigen würden, würde die breite Masse sagen, würden wir resignieren - und wir könnten ohnehin nichts ändern ...

Eugen Drewermann: «Genau. Eine Person, die mir immernoch hilft, ist die Person Jesu von Nazareth. Das war ein Mann, der einmal aufstand und sagte: 'Ihr seid des Teufels. So kann es nicht weitergehen, der Kollaps ist absehbar! Und ändert ihr es jetzt nicht, hole eucht der Teufel.' Ich kann es nicht besser sagen.»


MR: Sind in Ihren übervollen Bücherregalen noch irgendwo Lücken? Sind da leere Flächen, in denen nur ein Fragezeichen an Gott und das Leben steht? Und wenn ja, welche Fragen sind dies?

Eugen Drewermann: «Jede Menge! Ich habe jetzt eine ganze Reihe Bücher geschrieben; über Naturwissenschaft und Theologie – Biologie, Kosmologie, Anthropologie, Neurologie usw. Einfach, um zu sehen, wie die Natur arbeitet, wie sie sich erklärt, was für Fragen daraus hervorgehen für die Theologen, auch für mich selbst. Und da wächst auch eine Menge Skepsis.

Dass man Gott nicht erkennt, wenn man sich die Natur betrachtet. Sie und ich, wir lieben die Tiere. Aber wenn wir uns anschauen, wie die Tiere leben müssen: wieviel Grausamkeit da ist, wie soll man da glauben, dass ein Gott in Weisheit und in Güte genau das so hat haben wollen? – Ich finde es skandalös.

Mit einem Wort: Ich brauche Gott endgültig nicht mehr, um die Welt zu erklären, sondern um der Welt standzuhalten.

Ich möchte, dass es so ist. Und ich könnte gar nicht viel anders leben, außer mit diesem Wunsch. Aber das hört sich nicht an nach einer konsistenten Theorie. Glaube ist wahrscheinlich auch keine konsistente Theorie, sondern eine Option, eine Vermutung, die man hat, um so zu leben, wie man es richtig findet.

Also da gäbe es jede Menge Fragen. Und ich bekomme beides nicht zusammen: die Religion und die Wissenschaft kriege ich eigentlich nur dialektisch, entgegengesetzt, zusammen, nicht als Einheit.

Es ist ein riesiger Krater von Fragen. Und so könnte ich dranbleiben: Was ist mit der Gesellschaft? Ich gebe mir wirklich Mühe, beispielsweise den Krieg zu verstehen. Ich habe jahrelang gebastelt an allen möglichen soziologischen, psychologischen Theorien – religiösen sowieso – aber ich verstehe absolut nicht ... Ich habe biologische Erklärungen, warum das so ist. Biologisch kann ich begreifen, wenn etwas sinnvoll ist. Aber das tun doch Menschen! Ganz normale Familienväter ... Wie ist sowas möglich? Ich weiß es nicht!»


MR: Vielleicht fehlt die Sichtweise der Esoterik?

Eugen Drewermann: «Weil sie eigentlich zu weise ist. Die Esoterik erklärt die Ungerechtigkeit, das Böse, die Belastungen des menschlichen Lebens auf eine unglaublich einsichtige Weise. Und ist insofern die beste Antwort, die sich überhaupt geben lässt.

Sie funktioniert ja auch im Brahmaismus, Hinduismus seit 5.000 Jahren, hat also eine ganz hohe Überzeugung schaffen können.

Meine Art zu glauben, ist einfach heimatloser geworden. Ich habe diesen Hintergrund nicht mehr. Ich glaube einfach trotzdem.

Die Natur halte ich für alles andere als weise, gütig, geordnet – ich sehe sie chaotisch, grausam, blind und hundsgemein.»


MR: Vielleicht ist auch der Verstand der falsche Ansatzpunkt? Vielleicht ist unser menschlicher Verstand derzeit einfach nicht dazu gemacht, alles zu verstehen?

Eugen Drewermann: «Wie wollen Sie es verstehen? – Sie streicheln ein Kätzchen, und das ist so ein liebes Tier. Sie müssen es nur vor die Tür lassen – es kann noch so gut versorgt sein – es wird zu seinem Vergnügen auf die nächsten Vögel gehen, und wenn es einen davon hat, zu spielen anfangen. Oder sich eine Maus nehmen. Und mit wem sollen Sie jetzt Mitleid haben, mit der Katze oder der Maus?

Alles soll in Grausamkeit leben, die Rivalität – endlos ... Die Selektion der Fittesten – ein simples darwinistisches Grundprinzip – basiert auf endloser Grausamkeit – und erklärt die Natur!»


MR: Ich habe ein anderes Weltbild ...

Eugen Drewermann: «Ich hätte auch gern ein anderes Weltbild. Aber ich kann das andere Weltbild nur den Menschen zuordnen, oder meiner Sehnsucht, oder meiner Art von Religion. Oder dem Wunsch: Zu dem Kontrast, den wir jetzt haben, ist eine ganz andere Welt möglich.»


MR: Es ist zum Verzweifeln, weil es grausam ist. Aber ich glaube trotzdem daran, wie es in Hermann Hesses «Siddhartha» geschrieben steht, nämlich dass die Welt nicht im Inbegriff ist, vollkommen zu werden, sondern zu jedem Zeitpunkt vollkommen ist - auch wenn sie grausam erscheint, und es auch ist. Ich habe einen Rückhalt, weil ich weiß, dass alles seinen Sinn haben muss und ein Teil einer großen göttlichen Ordnung und Weisheit ist. Und wir leben auf einer Stufe davon - der Polarität ...

Eugen Drewermann: «Das weiß ich nicht. Das weiß ich wirklich nicht. Sie haben ja gefragt, ob da nicht Lücken wären, bei all dem, was ich geschrieben habe. Jetzt haben wir lauter Lücken.

Bis dahin sind wir uns aber wahrscheinlich einig:

Um die Welt zu verstehen, brauchen wir eine ganz andere Ebene. An die möchte ich glauben, aber ich überlasse das Gott. Ich sehe nicht, dass es geordnet, weise ist. Das muss Er wissen.

Ich erlaube mir dagegen Protest zu erheben. Und wütend zu sein, oder verzweifelt. Ich will nicht, dass es so ist.

... Der Hauptschlüsselpunkt ist wohl: Wenn sich zwei Menschen lieb haben, dann ist der Tod ...»


MR: ... Nicht real?

Eugen Drewermann: «– nicht real. Denn wenn er endgültig die Realität bilden würde, wäre das skandalös.»


MR: ... Dann würde es auch die Liebe nicht geben.

Eugen Drewermann: «Dann würde es wahrscheinlich auch die Liebe nicht geben. Weil es keinen Sinn machen würde.»

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Dieses Interview wurde in Auszügen in der Zeitschrift «mysteries» (Ausgabe 4/2010) abgedruckt. Das Copyright liegt bei Maria R. Rossmanith und Eugen Drewermann.

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