Was dachte er in diesem Moment?

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HINWEIS / TRIGGERWARNUNG: In diesem Text geht es um das Thema Krieg und Gewalt. Es kann also Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen, Diskriminierungserfahrungen oder Flashbacks sein. Bitte seien Sie achtsam, wenn das bei Ihnen der Fall ist. 

Ein Sommer-Sonntag-Nachmittag wie im Bilderbuch. 

Ich bin auf dem Donau-Ilz-Radweg im Bayerischen Wald unterwegs. Eine ehemalige Bahnstrecke, über die sich mittlerweile ‒ kilometerweit ‒ glatter Asphalt erstreckt, auf dem man durch die freundlichen Landstriche des Passauer Lands gleiten kann. 

Meine Seele spannt ihre Flügel weit. Überall nur Anlass zur Freude: Wind, Wärme, Bäume. Felder, Grün, Kühe. Grillen untermalen pures kleines Glück. Meinen Rucksack und mein Rad ‒ mehr brauch' ich nicht. 

Überall duftet es interessant, überall gut. Unterwegs sein und doch an jedem Ort ankommen und sich zuhause fühlen. Nette Begegnungen hier und da. Unverhofft eine 1.000-jährige Linde bestaunen. Einen liebevoll angelegten Bibelgarten begehen. Und immer weiter ... 

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... gleite ich schwerelos, schließe die Augen, atme, lebe, genieße. Fühle den Fahrtwind ‒ oft muss ich für weite Strecken nicht einmal treten, denn das Gewicht des E-Bikes lässt mich mit 25 Stundenkilometern regelrecht dahinfliegen ‒ ohne jede Anstrengung. Vorbei an Weg-Marken der Bahn: alte Betonklötze mit Ziffern darauf. 33.1, 33.2, 33.3 ...

Plötzlich ist da ein Gleis. Es ist ein einzelner Abschnitt der einstigen Bahn, der durch einen Sichtschutz von der wohlgepflegten Häuserzeile gegenüber abgetrennt ist, dahinter ein leerer Parkplatz. Steine, dunkles altes Holz, Gleise. Und darüber schwarz-weiß-Fotos? Ich komme näher und blicke in ernste Gesichter, erfasse auf den Fotografien sofort dasselbe Bild wie in der mich umgebenden Jetzt-Zeit: Dort hinten ist das Fundament, das auf dem Foto hinter dem Waggon ist, in dem die Gesichter blicken...

«Am 7. April 1945 verließ ein Todeszug mit ca. 4.500 ausgemergelten KZ-Häftlingen das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Die ausgehungerten und kranken Gefangenen, von SS-Wachmannschaften begleitet, durchlitten die 21 Tage dauernde Fahrt an der Schwelle des Todes in offenen oder geschlossenen Viehwaggons.»

Jeder Satz wiegt schwer. In Viehwaggons.

«Am 19. April 1945 traf der Todeszug auf dem Nammeringer Bahnhofsgelände ein.»

Hier ‒ genau hier. Wo ich jetzt stehe.

«Während des 5-tägigen Aufenthalts gingen die SS-Wachen mit menschenverachtender Brutalität gegen die wehrlosen Gefangenen vor. Schüsse, Wehklagen und Leichengeruch beherrschten die grausige Szenerie. [...] Pfarrer Bergmann: 'Durch die halboffene Tür sah man die Leichen hoch aufgeschichtet im Waggon liegen. Die Gefangenen waren nur notdürftig bekleidet ... Ihr Aussehen war das schwer leidender, unterernährter Menschen, ihre Haltung schwankend, kraftlos ... Die Augen hohl, die Gesichter eingefallen.' In Nammering blieben 794 tote KZ-Häftlinge zurück.»

Mein Blick geht zurück zu den Gesichtern, zu den erloschenen Augen, die aus dem Waggon blicken. Die wie mich anblicken. Was wohl dachte dieser Mann in dem Moment der Aufnahme? Was dachte der Mensch im Moment des Fotografiert-Werdens? Langsam laufen mir die Tränen über die Wangen. Ich steige betreten vom Rad herunter, beschämt vom Radweg weg, und lese weiter.

Heinrich Klössinger, der damalige Bahnvorsteher, legt über die Tode Zeugnis ab: «Am 19. April wurde bei Nacht ein ganzer Waggon von 45 Häftlingen erschossen. Am nächsten Morgen floss das Blut noch durch den Boden des Waggons. Die Leichen wurden am nächsten Tage 6 Uhr früh aus dem Waggon geworfen; die nur Verwundeten mit einem Genickschuss getötet oder mit dem Gewehrkolben erschlagen. Tag und Nacht ging das Morden weiter. [...] Ich versichere, dass meine Angaben der Wahrheit entsprechen.»

Die Stille wiegt mit einem Mal so schwer.

«Etwa 300 Meter von dieser Stelle wurden Hunderte verscharrte Opfer auf Anordnung der Amerikaner aus einem sumpfigen Massengrab exhumiert und in den umliegenden Ortschaften beigesetzt. Unter Androhung der Todesstrafe musste die Bevölkerung im Mai 1945 an den bereits verwesenden Toten vorbeidefilieren und die Opfer in Augenschein nehmen.»

Und genau die Zeugnisse dieser Szenen kann ich dann auch sehen: Ich kann in die Vergangenheit sehen. Ich sehe Deutsche, die an aufgebahrten Leichnamen vorbeigehen. Die Gräber ausheben. Eine Mutter, die ein Tuch von einem kaum mehr als menschliches Wesen erkennbaren körperlichen Überrest hebt, um ihrem zurückweichenden Sohn die grausame Realität zeigen zu müssen. Eine andere Frau im rot-weißen Sommerkleid, die Hand vor Nase und Mund ‒ daneben unzählige der toten Körper. Auf einer grünen Wiese, einer Sommerwiese. Noch mehr als ihre Geste, die Hand erschrocken vor Nase und Mund, erschüttert mich dieses unbeschwerte rote ‒ also farbige Kleid.

Vor wenigen Momenten noch war ich auf diesem grünem Gras, der Wald stand so wie auf dem Foto daneben, möglicherweise gibt es noch Bäume von damals, darüber ein blauer Himmel und eine warm scheinende Sonne. Damals ebenso! In dieser schier nicht fassbaren Szene ‒ vor wenigen menschlichen Augenblicken ‒ ebenso. Die Jahre dazwischen erlischen. Ich finde man vergisst eben dies leicht: Es war wie heute, es war damals weder schwarz-weiß, noch 2-D, noch sonst irgendwie anders. Und die Menschen? ‒ Die Menschen waren keine anderen.

Schließlich wandere ich weiter, wie betäubt dem Schild zur besagten «Todeswiese» der Fotos folgend. Es ist diesselbe Wiese. Es ist diese Wiese, auf der ich mit diesen meinen Füßen stehe, auf der diese unvorstellbar grausamen Dinge sich zugetragen haben, und die umliegenden Bäume erscheinen mir, als könnten und wollten sie's ebenfalls nicht fassen.

Der Anblick der dunklen, alten Ziffern auf den Wegsteinen fährt mir jetzt in Mark und Bein. Der Fahrtwind des Rückwegs schneidet kühl ins Fleisch. Die Sonne ist verschwunden, wie aus Respekt und Anteilnahme. Mein Herz wiegt schwer, die Bäume links und rechts des Weges erscheinen bedrohlich. Der gesamte Weg ist jetzt plötzlich ein einziges Mahnmal. Und Glück und Leid sind wie so oft verstörend nah nebeneinander.

Ein Mahnmal des Weges, der unter dem Asphalt einmal eine Bahnstrecke war. Eine Bahnstrecke, auf der hunderte Menschen wie Du und ich ihrem unausweichlichen Schicksal entgegenfuhren.. Vielleicht sah ein junger Mann hinaus, der Wind streifte sein Gesicht, er sah auf diese Steine... 33.1, 33.2, 33.3... Was mag er wohl dabei gedacht haben?

Was ging ihm durch den Kopf, in den Sekunden als dieses Foto von ihm gemacht wurde? 

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Es war schließlich die Befreiung durch die Alliierten für die Menschen auf diesem Bild ‒ der Moment, als dieses Foto gemacht wurde.

Wir dürfen das alles wirklich nie vergessen. 

  • Weitere Fotografien und Hintergründe auf: nsaller.de
  • Donau-Ilz-Radweg im Bayerischen Wald: donau-ilz-radweg.de
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©
sw-Foto und Zitate: entnommen nsaller.de, mit freundlicher Genehmigung von Nikolaus Saller, Arbeitsgemeinschaft KZ-Transport 1945, 94538 Fürstenstein. 

 

© Maria Rabia Rossmanith, MEERSTERN.de 


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